Rund 80 Prozent der Internetnutzerinnen und Internetnutzer in Deutschland sehen regelmäßig unhöfliche oder verletzende Kommentare (inzivile Äußerungen) auf Social Media, auch solche, die gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen gerichtet sind. Das kann Betroffenen persönlich schaden, aber etwa auch die gesellschaftliche Spaltung verstärken. Deswegen ist es problematisch, dass die meisten unbeteiligten Nutzenden (Bystander) nicht auf Inzivilität reagieren. Wenn niemand reagiert, könnte das den Eindruck vermitteln, dass es auf Social Media in Ordnung ist, andere abzuwerten. Reagieren Nutzende allerdings wertschätzend und unterstützen Betroffene, zum Beispiel in sachlichen Kommentaren, könnte dies zu einem respektvolleren Umgang auf den Plattformen führen. Bisherige Studien dazu, warum Bystander eingreifen oder nicht, beruhen auf persönlichen Auskünften über eigenes (beabsichtigtes) Verhalten. Das Ziel dieses Projekts war es daher, Bystanderverhalten gegen Inzivilität auf Social Media in einer möglichst natürlichen Umgebung zu beobachten. Um zu untersuchen, welche Merkmale von Kommentaren und Plattformen tatsächliches Eingreifen beeinflussen, wurde eine Social-Media-Plattform nachgestellt.
Einflussfaktoren digitaler Zivilcourage
Digitale Zivilcourage bedeutet, dass Zuschauende zugunsten anderer eingreifen, wenn sie inzivile Äußerungen im Internet sehen, obwohl sie dabei schlimmstenfalls riskieren, selbst zum Ziel von Inzivilität zu werden. Digitale Zivilcourage kann direkt sein, indem man sich beispielsweise für ein respektvolles Miteinander in einem Nutzerkommentar einsetzt, oder indirekt, indem man potenziell strafrechtlich relevante Inhalte meldet. Ein bewährtes Modell aus der Sozialpsychologie erklärt, wann Bystander in Notlagen eingreifen und das gilt auch online: Bystander greifen unter anderem dann eher ein, wenn sie die Situation als bedrohlich für andere empfinden, sich persönlich für ein Eingreifen verantwortlich fühlen und wissen, wie sie helfen können.
Zudem können spezifische Eigenschaften von inzivilen Äußerungen im Internet sowie Eigenschaften der Social-Media-Plattformen beeinflussen, wie Nutzerinnen und Nutzer eine Situation einschätzen und ob sie eingreifen. Inzivilität richtet sich gegen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Es ist jedoch kaum bekannt, wie Nutzende solche Äußerungen je nach Zielgruppe bewerten und in welchen Fällen sie eher aktiv werden.
Zudem könnten soziale Normen der Plattform das Eingreifen beeinflussen. Wenn Menschen sehen, dass sich die Mehrheit auf eine bestimmte Weise verhält, neigen sie häufig dazu, sich dem Verhalten anzupassen, da sie es als angemessen wahrnehmen oder glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Auf Social Media ist bekannt, dass Nutzende in inzivile Äußerungen seltener eingreifen, wenn andere das bereits getan haben. In Offlinenotlagen wurde jedoch festgestellt, dass Bystander eher helfen, wenn sie zuvor beobachtet haben, dass sich ihre Gruppe gegenseitig unterstützt. Das Projekt untersuchte daher, wie sich Nutzende verhalten, wenn auf einer Social-Media-Plattform generell hilfsbereites und wertschätzendes Verhalten vorherrscht oder wenn das Gegenteil der Fall ist.
Simulationsstudie mit einer Mockup-Social-Media-Plattform
Wir führten mit der Social-Media-Simulation namens Daily.dot ein Onlineexperiment mit Social-Media-Nutzenden in Deutschland durch. Die Mockup-Social-Media-Plattform basierte auf einer bestehenden Infrastruktur der Cornell University, alle Inhalte und Funktionalitäten wurden jedoch eigens für die Studie angepasst.
Nach einer Vorbefragung wurden die Teilnehmenden gebeten, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen die Betaversion von Daily.dot zu testen und dort zum Beispiel die Beiträge von anderen Nutzenden zu lesen. Die anderen Nutzenden waren eigens für die Studie erstellte Accounts, die regelmäßig Beiträge, Kommentare und Likes erzeugten. An beiden Tagen wurde jeweils ein Kommentar angezeigt, der sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund oder Politikerinnen und Politiker richtete. Wir variierten zudem die soziale Norm auf der Social-Media-Plattform: 80 Prozent der Kommentare waren entweder prosozial (boten Hilfe an, gaben Informationen, spendeten Trost) oder antisozial (weigerten sich zu unterstützen). Nach dem Experiment erfassten wir in einer Nachbefragung die Wahrnehmung der Inzivilität.
Das Onlineexperiment zeigte, dass die Teilnehmenden eher eingriffen, wenn sie inzivile Äußerungen gegen Menschen mit Migrationshintergrund sahen, als wenn diese gegen Politikerinnen und Politiker gerichtet waren. Mehr Teilnehmende meldeten diese Kommentare oder unterstützten Betroffene, weil sie die Kommentare als bedrohlicher für die Betroffenen und die Demokratie empfanden und sich stärker verantwortlich fühlten einzugreifen. Interessanterweise hatte das Verhalten der anderen Nutzenden (prosozial oder antisozial) aber keinen unmittelbaren Einfluss auf das Verhalten der Teilnehmenden. Jedoch konnten die Teilnehmenden gut erkennen, ob auf der Plattform eine prosoziale oder antisoziale Norm vorherrschte.
Fazit
In der Vorbefragung zeigte sich, dass Politikerinnen und Politikern häufiger selbst die Verantwortung für erhaltene Inzivilität zugeschrieben wird, möglicherweise weil sie oft Unterstützung durch professionelle Social-Media-Teams erhalten. Das trifft zwar nicht immer zu, etwa auf Menschen, die in den Kommunen ehrenamtlich tätig sind, kann aber ein Grund dafür sein, dass die Teilnehmenden hier weniger reagierten (verglichen mit rassistischer Inzivilität). Weil Inzivilität Betroffenen persönlich schaden und etwa Menschen davon abhalten kann, sich in der Gesellschaft zu engagieren, ist es wichtig, Nutzende darauf aufmerksam zu machen, dass digitale Zivilcourage in jedem Fall und über soziale Gruppen hinweg wertvoll ist.
Der Umgang der anderen Nutzenden untereinander auf der Plattform hatte keinen Einfluss auf das Eingreifen der Teilnehmenden. Möglicherweise lag das daran, dass die Nutzenden niemanden der anderen Teilnehmenden persönlich kannten. Es bleibt zu überprüfen, ob etwa ein prosozialer Umgang im Bekanntenkreis auf Social Media Zivilcourage fördern kann. Dennoch zeigt die Studie, dass das Verhalten anderer Nutzender auf Social Media wahrgenommen wird. In der Projektpublikation wird daher genauer untersucht, wie nicht die tatsächliche Verhaltensnorm auf der Plattform, sondern deren Wahrnehmung das Verhalten der Teilnehmenden prägt.
Die vom bidt veröffentlichten Blogbeiträge geben die Ansichten der Autorinnen und Autoren wieder; sie spiegeln nicht die Haltung des Instituts als Ganzes wider.
Der Beitrag Zivilcourage auf Social-Media-Plattformen erschien zuerst auf bidt DE.