Um diese Frage zu klären, bedarf es zunächst einer Bestimmung dessen, was wir unter Humanismus verstehen wollen. Humanistisches Denken und teilweise auch eine humanistische Praxis in Gesellschaft und Politik gibt es seit der Antike – nicht nur in Europa. Zu den europäischen Wurzeln humanistischen Denkens gehören Sokrates und das Philosophieren in seinem Geist. Die Sokratik geht davon aus, dass Menschen selbst denken können und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht, formaler Bildung. Die Sokratik ist die humanistische Variante früher europäischer Aufklärung, ihr Gegenspieler ist die Sophistik, für die es keine Wahrheit und kein Wissen gibt, für die Argumente und Theorien lediglich den Zweck haben, eigenen Interessen zu dienen. Eine radikale Aufklärung, die alles infrage stellt, endet im Anti-Humanismus, in Naturalismus und Nihilismus. Auch in anderen Kulturkreisen gibt es antike Formen humanistischen Denkens und humanistischer Praxis – in Ostasien in Gestalt des Konfuzianismus, in Südasien in Gestalt des Buddhismus. Es würde hier jedoch zu weit führen, darauf einzugehen.
Das Gemeinsame allen humanistischen Denkens über unterschiedliche Kulturen und Zeiten hinweg ist das Vertrauen in die Vernunftfähigkeit der Menschen, die den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit (Immanuel Kant) weist. Damit Menschen imstande sind, sich ein eigenes Urteil zu bilden und ein Leben aus eigener Verantwortung heraus zu gestalten, müssen sie ihre kognitiven und ethischen Potenziale entfalten. Der Humanismus setzt auf Selbstentfaltung des Menschen als Individuum und der Menschheit als Kollektiv.
Im 19. Jahrhundert ging ein neuer humanistischer Impuls zunächst von Preußen aus und verbreitete sich dann rasch über die deutschsprachigen Länder, über Mittel- und Südeuropa, später über die ganze Welt. Dieser setzte ganz auf Bildung in Schulen, Hochschulen und Lebenspraxis. Die Bildung der Persönlichkeit sollte jedes einzelne menschliche Individuum in die Lage versetzen, das eigene Leben in respektvoller Interaktion mit anderen sinnvoll zu gestalten, in meiner Terminologie: Autorin oder Autor des eigenen Lebens zu werden. Diese Idee der Lebensautorschaft muss man philosophisch präzisieren (Nida-Rümelin 2016). Eine wichtige Rolle spielt dabei die menschliche Fähigkeit, sich von Gründen affizieren zu lassen, sowohl im Urteil wie im Handeln, auch in den emotionalen Einstellungen. Wir sind deliberierende Wesen, dies ist die spezifisch menschliche Fähigkeit, die uns von anderen Lebewesen unterscheidet, während wir Gefühle, wie Angst oder Freude, und Empfindungen, wie Lust oder Schmerz, mit vielen Spezies teilen.
Durch die digitale Transformation ist das humanistische Selbstbild des Menschen und sind die normativen Grundlagen von Demokratie und Recht doppelt herausgefordert: Zum einen, weil digitalen Entitäten (Computer, Softwaresysteme, KI-gesteuerte Roboter, Chatbots, generative künstliche Intelligenz etc.) ein Akteurstatus zugeschrieben wird, als würde ChatGPT unsere Fragen wirklich verstehen, als handele es sich um eine mit beachtlichem Weltwissen ausgestattete Instanz, die uns berät und unsere Fragen klärt, wohlwollend und kooperativ (Nida-Rümelin/Weidenfeld 2023) oder wenn die Nationale Wissenschaftsagentur Australien Csiro sich vornimmt, „Technologie empathisch zu machen“ (Csiro o. J.) und damit in die Falle eines Animismus tappt, also der Beseelung von Unbeseeltem (Nida-Rümelin/Weidenfeld 2022) vornimmt.
Forschungsprojekt
Digitaler Humanismus
Wenn wir im digitalen Zeitalter umgekehrt dazu tendieren, uns selbst als digitale Maschine zu betrachten (digitale „neuronale“ Netze), dann kippt der mystifizierende KI-Animismus in einen anthropologischen Mechanismus, dann müsste unser humanistisches Selbstbild aufgegeben werden. Genuine Deliberation, die ergebnisoffen ist, würde es dann nicht geben und die Selbstverantwortung für die eigene Praxis wäre obsolet, da Verantwortlichkeit ein gewisses Maß an Selbstbestimmung voraussetzt (Nida-Rümelin 2005).
Es sind die ethischen und politischen Implikationen, die diesem Ansatz des digitalen Humanismus in den letzten Jahren seine Dynamik verschafft haben: Wie kann unter den Bedingungen der digitalen Transformation dafür gesorgt werden, dass menschliche Autorschaft und Verantwortung gestärkt und nicht geschwächt werden? Wie kann schon in der Softwareentwicklung die ethische Dimension berücksichtigt werden? Welche Implikationen ergeben sich für die Entwicklung der Informatik an den Universitäten? Welche unterschiedlichen wissenschaftlichen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Aspekte ergeben sich aus dem digitalen Humanismus?
Dieser Beitrag ist im bidt Magazin erschienen.
autor
Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin
Mitglied im bidt-Direktorium | Professor emeritus für Philosophie und politische Theorie, Ludwig-Maximilians-Universität München
Fußnoten
Literatur
CSIRO (o. J.). Empathic AI. https://www.csiro.au/en/research/technology-space/ai/AI-capabilities-directory/Empathetic-AI [08.05.2024]
Nida-Rümelin, J. (2016). Humanistische Reflexionen. Berlin.
Nida-Rümelin, J./Weidenfeld, N. (2022). Digital Humanism: For a Humane Transformation of Democracy, Economy and Culture in the Digital Age. https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-12482-2 [08.05.2024]
Nida-Rümelin, J./Weidenfeld, N. (2023). Was kann und darf KI: Plädoyer für Digitalen Humanismus. München.
Der Beitrag Was ist digitaler Humanismus – und was bedeutet er in Zeiten von generativer KI? erschien zuerst auf bidt DE.